"ADS gibt´s nicht" - Die größten Fehlinformationen rund um AD(H)S

Dieses Thema im Forum "ADS Diskussionsforum" wurde erstellt von Nightwing, 1 Februar 2013.

  1. Fragt mich nicht warum, ich habe das Gefühl (Bedürfnis?) mit ein paar Standartargumenten aufräumen zu müssen, die immer und immer wieder kommen und alles sind - nur nicht richtig.
    Wenn jemandem noch Punkte einfallen - SUPER - einfach mitschreiben - wer Fragen hat: Bitte stellen...

    1. ADS ist eine Modekrankheit, die es erst seit ein paar Jahren gibt.


    Ja nee - iss klar. Wer immer damit um die Ecke kommt, dem empfehle ich meist "Dr. Heinrich Hoffmann" - kennt jeder... oder etwa nicht? Und wenn ich "Struwwelpeter" sage? Aaaahhh... :)

    Besagter Dr. Hoffmann war Arzt - und wenn man sich seine Geschichten anschaut, sieht man, dass er die Kernsymptome von ADS beschrieben hat, ohne zu wissen, warum die Kinder so sind:
    "Der Zappel-Philipp" - Hyperaktivität. "Der böse Friederich" und in Ansätzen "Der Suppen-Kaspar" - Impulsivität bzw. verminderte Impulskontrolle sowie verminderte Frustationstoleranz.
    "Die Geschichte vom Feuerzeug" und "Der fliegende Robert" - ebenfalls Impulsivität und erhöhte Risikobereitschaft. "Hans Guck in die Luft" - Aufmerksamkeitsdefizit...

    Nur, weil man früher nicht ahnte, woher diese Verhaltensweisen kamen, kann man jetzt nicht behaupten, es sei eine "Erfindung der Neuzeit". Das träfe dann z. B. auf Epilepsie auch zu.
    Die hat Hippokrates 430 v.Chr. schon beschrieben, aber erst 1929 konnte man mit Hilfe des EEG erkennen, dass die Ursache im Gehirn liegt...

    2. Mit Ritalin werden Kinder ruhig gestellt

    Diese Sätze machen mich einfach nur wütend. Der Wirkstoff in Ritalin (und anderen Medikamenten) ist Methylphenidathydrochlorid (MPH) und das ist zu allererst kein Beruhigungsmittel, sondern eine Psychostimulanzie.
    Ja - richtig gelesen. MPH stimuliert, es beruhigt nicht. MPH zählt zu den Amphetaminablegern und wirkt daher anregend. Warum scheinen Kinder mit ADS dann ruhiger zu werden? Ganz einfach:

    ADS ist eine Stoffwechselstörung des Gehirns. Man kann sich das ungefähr so vorstellen: Reize werden wie Ware aufgenommen und auf LKWs (Dopamin) gepackt, um zu den Nervenzellen transportiert zu werden, wo sie dann abgeladen und verarbeitet werden. Bei ADS gibt es nun für die beladenen LKWs nicht ausreichend viele Laderampen - es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Neurotransmittern. Die Folge ist, dass Reize nicht ordentlich gefiltert und verarbeitet werden können.
    Symptome sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Hyperaktivität, Reizbarkeit... MPH sorgt jetzt dafür, dass an den Laderampen "schneller gearbeitet wird", regt also die Reizweiterleitung an. Reize können wieder gefilter und verarbeitet werden. Das Kind wirkt ruhiger.

    Die Horror-Stories, dass überforderte Eltern ihren Kindern MPH geben, obwohl sie kein ADS haben - nur damit die ruhiger werden - sind Schwachsinn. Würde ein Mensch ohne ADS MPH zu sich nehmen, würde der Wirkstoff allenfalls eine vorhandene Unruhe verstärken. Man würde "hibbelig" werden - wie nach einer Überdosis Koffein. Wenn man also hört "Du stellst Dein Kind ruhig" weiß man zwei Dinge: a) Das Gegenüber hat keine Ahnung und b) Die Diagnose war offenbar korrekt, sonst würde das Medikament nicht so wirken.

    So - Schluss für heute, ich bin müde... ein paar "Mythen" hab´ ich aber noch ;-)
     
  2. AW: "ADS gibt´s nicht" - Die größten Fehlinformationen rund um AD(H)S

    :smiley: Schön. Dann traue ich mich mal, hier so einfach zwischendurch hinein zu schreiben.
    Ich habe nur wenig Erfahrungen im Umgang mit AD(H)S. Ich habe mir ehrlich gesagt noch nicht mal gemerkt, ob ADS oder ADHS.
    Die Erfahrungen, die ich habe, lassen mich vor Ritalin zurück zucken.
    Ich kenne diese Kinder von Säugling an ziemlich gut, eines davon sehr gut. Ein sehr anstrengendes Kind, das zwischendurch irgendwie "austickt". Er lügt, tobt, isst schlecht, gehorcht nicht oder nur wenig, kann stundenlang herrlich phantasievoll spielen, denkt sich zusammen mit meinem Sohn sehr kreative Spiele aus, hat sehr viel Phantasie - so viel Phantasie, dass das auch mit dem Lügen hervorragend klappt, so wie er es erzählt muss man ihm einfach glauben, ist ein ausgesprochen fröhliches Kind, jede Pore ist spritzige und mitreißende Fröhlichkeit. Das kann ganz plötzlich umkippen zu einer ganz tiefen Traurigkeit. Er ist ein ganz zärtlicher tierliebender fürsorglicher Mensch.
    So. Das ist das Kind, das ich kennengelernt habe, wie ich ihn habe sich entwickeln sehen. Es war manches Mal schwierig.
    Doch dann kam die Diagnose und es kam Ritalin.
    Und dieser Mensch war weg. Nichts mehr von spritziger Fröhlichkeit. Klar, war da noch Lachen und Freude, Spiel und Kreativität. Aber nichts im Vergleich zu dem Menschen, der er vorher war.
    Es hat mir weh getan, das zu sehen.
    Falsch eingestellt, lautet die Antwort auf meine Bedenken.
    Ich kann das nicht glauben, weil ich der Meinung bin, dass dieses Kind kein Ritalin benötigt hat. Doch ich kann es nur aus den Stunden beurteilen, die er bei uns war. Er war zwar oft bei uns, aber ich bin nicht sein Elternteil.

    Meine Frage an die, die sich damit auskennen:
    Seht ihr die Gabe von Ritalin als gut an?
    Generell?
    Warum bzw. warum nicht?
     
  3. #3 Nightwing, 4 Februar 2013
    Zuletzt bearbeitet: 5 Februar 2013
    AW: "ADS gibt´s nicht" - Die größten Fehlinformationen rund um AD(H)S

    Hast Du ihn mal gefragt, wie er sich gefühlt hat - ohne Medikament und mit Medikament?
    Du sagst "Und dieser Mensch war weg." Das ist Deine ureigene Feststellung, basierend auf Deinen Gefühlen und Deiner Sichtweise. Du wolltest das anders... was wollte oder will er?

    Ich kenne viele Kinder, die - wenn sie Medikamente nehmen - von ihrer Umwelt so wahrgenommen werden, wie Du diesen Jungen wahrgenommen hast: "Da fehlt was..." - und diese Kinder sagen oft erstaunt, dass sie froh sind, nicht mehr so zu sein, wie früher. Dass sie es toll finden, auf einmal alles klar zu sehen und mitzubekommen...

    By the way:
    Wir schreiben hier über einen Dritten - zudem über ein Kind. Das finde ich schon ziemlich problematisch, weil sich weder das Kind noch dessen Eltern in irgendeiner Weise erklären können.
    Ich kann Deine Gefühle gut verstehen und ich finde es toll, welche Gedanken Du Dir machst. Aber ich kann Dir leider nichts erklären, was ich selber nicht erlebt habe... verstehst Du was ich meine?
    Vielleicht findet sich im Laufe der Zeit noch der ein oder andere, der aus eigenen Erfahrungen heraus schreiben kann...

    Zu Deiner Frage "Seht ihr die Gabe von Ritalin (MPH) als gut an."

    MPH wirkt bei ADS wie eine Brille - man "sieht klarer", man ist in der Lage, Reize besser zu verarbeiten, Stress zu kompensieren - alles Dinge, die bei einem ADSler zu Reaktionen führen, unter denen nicht nur die Umwelt, sondern vor allem - und DAS ist wichtig - der Mensch selber unendlich leidet. Glaub´ mir, denn ich weiß wovon ich rede. Aber MPH ist kein Heilmittel. Es unterstützt nur bei dem, was man als Mensch mit ADS lernen muss.
    Achtsamkeitstraining, Meditation, sogenanntes "Skill-Training" - das sind die Dinge, die einem helfen, trotz oder mit ADS ganz normal zu leben.
    Ich bin kein Freund von blindem Arztgehorsam und gedankenloser Medikation - erst recht nicht bei Kindern, aber wenn mein Kind nichts sieht und ich verweigere ihm die Brille, finde ich das sehr verantwortungslos.
    Alles steht und fällt mit einem wirklich spezialisierten Arzt, einer genauen Diagnose und einer Medikation, die auf den Bedarf abgestellt und immer in kurzen Abständen überprüft wird.

    Ich kenne Jugendliche, die irgendwann aus eigenem Antrieb auf Medikamente verzichten wollten, weil sie wissen wollten, ob es nicht auch ohne Medikament geht. Manche kommen wunderbar zurecht - andere haben MPH wieder genommen, weil es nicht klappte... wieder andere nehmen MPH bei Bedarf - in Hochstressphasen - da ist jeder Mensch mit ADS anders, weil jedes ADS anders ausgeprägt ist.

    Ich hätte in meinem Fall z. B. nie damit gerechnet, dass ich mit über 40 noch ein Medikament nehmen muss ("...lief doch alles prima bislang, oder.......?") aber es hilft mir. Und nicht nur ich spüre einen großen Unterschied zu vorher - auch meine Familie.
    Bevor Du jetzt fragst, wie ich all die Jahre klar gekommen bin ... ;-) Die Strukturen waren zu meiner/unserer Kindheit strenger (für einen ADSler ist das gut) - die Konsequenzen auch. Das hilft. Aber nur ein bißchen. Ansonsten habe ich oft mit den Handicaps kämpfen müssen und habe in vielen Bereichen sehr große Schwierigkeiten gehabt... wirklich große Schwierigkeiten.

    Ich würde meinem Kind nie die Brille vorenthalten, nur weil mein Umfeld Brillen doof findet, aber ich würde regelmäßig zum Arzt gehen und kontrollieren lassen, ob die Brille immer noch nötig ist.
    Verantwortung (als Eltern) - Sensibilität (gegenüber dem Kind) - ein guter Arzt - und begleitende, unterstützende Therapie: das sind Ecksteine, auf die man bauen kann.
    Das Medikament macht nur den Weg frei für all die Dinge, die dann wirklich helfen...
     
  4. AW: "ADS gibt´s nicht" - Die größten Fehlinformationen rund um AD(H)S

    ... und Eltern, die nicht mit der Verabreichung des Medikamentes aufhören.
    Ich kennen kaum Kinder, bei denen außer Ritalin etwas geschieht.
    Ist das zulässig? Wie kann ich es als Arzt verantworten, das Medikament zu verabreichen, wenn ich nicht weiß, was und ob außerdem etwas unternommen wird.

    Weiter mit meinen Erfahrungen:
    Habe ich diesen Zappelphilipp, wie kann ich es dann zulassen, dass er Tag und Nacht am Computer sitzt? Ich gebe ihm seine Medikamente und alles ist gut.
    Wie kann ich es zulassen, dass er Süßigkeiten, Cola, Limo in sich schüttet, sich fast davon ernährt?
    Ich glaube nicht, dass ich den Ausnahme-Extremfall kenne.

    Und. Nein, ich habe ihn nicht gefragt.
    Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, weil ich mir sicher war, dass er sich vor Ritalin wohl gefühlt hat in seiner Haut.

    Im Gegensatz zu einem anderen Kind, das seine Mutter fragte: Mama, warum bin ich so anders als die anderen?

    Ich bin nicht für und ich bin nicht gegen Ritalin.
    Ich bin für die Kinder, die es nehmen müssen und ihren Eltern ausgeliefert sind.
     
  5. #6 Nightwing, 1 Juli 2013
    Zuletzt bearbeitet: 1 Juli 2013
    AW: "ADS gibt´s nicht" - Die größten Fehlinformationen rund um AD(H)S

    Ich möchte mich jetzt nicht zu diesem "Verlag" äußern - könnte sehr heftig werden :dampfi: - und um erst keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:
    Der Kommentar richtet sich in keinster Weise gegen Kruemel...

    Dem interessierten und kritischen Leser lege ich zumindest den Wikipedia-Artikel zu diesem Verlag ans Herz... http://de.wikipedia.org/wiki/Kopp_Verlag ...
    Erich van Däniken, Theorien zum "erfundenen Mittelalter" und ein YouTube-Kanal mit Eva Herrmanns als Moderatorin... mehr muss man eigentlich nicht wissen.
    Recherchiert man daraufhin etwas mehr, bekommt man als denkender Mensch zumindest einen groben Eindruck, in welcher Ecke die Leute hier "zu Hause" sind.

    M. E. abstruse Theorien und unwissenschaftliches "Schwarz-Weiß" Denken...

    Ich stehe mit meinen eigenen Erfahrungen zu diesem Thema gerne jederzeit für Fragen etc. zur Verfügung... das wären dann wenigstens Infos aus erster Hand...
    Und wie bereits an anderer Stelle gesagt, bin auch ich kritisch und alles andere als "arzthörig" wenn es um Diagnosen und Medikation geht...

    Der "Kopp-Artikel" ist jedenfalls ein wunderbares Beispiel für gezielte und gefährliche Fehlinformation.

    @Kruemel:
    Das Thema ist viel zu komplex, um ein kurzes & klares Statement abgeben zu können.
    Und meine Erfahrungen zeigen, dass es gerade beim Thema ADS kein "richtig" oder "falsch", kein "schwarz" oder "weiß" gibt. Jeder Mensch mit ADS ist - so wie wir alle - anders und vor allem einzigartig.
    Das Angebot steht: Fragen, fragen, fragen... gerne auch - wenn Interesse besteht - irgendwann mal in einer kleinen Runde bei `ner Tasse Kaffee oder `nem Bierchen: ADS Live ;-)
     

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