Der zwanzigste Dezember

Dieses Thema im Forum "Rommerskirchener (Portal) Adventskalender 2014" wurde erstellt von Tom69, 20 Dezember 2014.

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    Der Adventnachmittag bei Frau Schuhmann (2)


    Frau Schuhmann streichelte Max über seine blonden Locken, der sich still über die Kekse hermachte.
    „Ich hätte gerne noch mehr Kinder gehabt. Aber nach dem ich Ruth geschenkt bekam,
    war mir klar, dass ich nie wieder ein Kind so lieb haben könnte, wie sie.“

    „Ist die Puppe auf deinem Schoß, die Puppe von Ruth?“, fragte Anna
    „Ja, das ist Madeleine, sie paßt jetzt auf mich auf, ich bin ja nun alt und alleine,
    und konnte ja nicht alles mitnehmen, als ich umgezogen bin!“
    Die Erzieherin rückte näher an den Tisch, verteilte den letzten Kakao
    und wischte Schokoladenbärte ab, als sie nachfragte.
    „Wer entschied denn, was sie in dieses Seniorenheim mitnehmen durften, Frau Schuhmann?“
    „Ich habe sorgfältig ausgewählt, als ich hier hin zog, vor einigen Jahren.
    Ich wußte ja, dass ich nur das nötigste an Möbeln und Kleinigkeiten mitnehmen konnte!“
    Ihr Blick wanderte nachdenklich durch das kleine Zimmer,
    das überfüllt war von kleinen Spitzendeckchen,
    weißen Porzellan und den beliebten Hummel- Sammelfiguren,
    die in einer kleiner Vitrine und auf verschiedenen Borden standen.
    An den Wänden hingen unzählige Messinggerahmte schwarz-weiß Fotografien und getrocknete Blumen.
    Bücherborde mit abgenutzten literarischen Klassikern und ein altes Grammophon mit echten alten Schallplatten.
    Die Biedermeiermöbel schienen stabil trotz Holzwurmfraß und die Glaslüstern verstaubt
    und dennoch Atmosphäre ausstrahlend.
    In einem kleinen Schrank entdeckten die neugierigen Augen der Kinder altes Holz und Metallspielzeug
    aus ganz alten Zeiten. Ein Kreisel, ein Brummseil, ein altes zerfleddertes Buch, ein paar hölzerne Stifte
    und eine Schieferntafel. Unter anderem stand dort ein eingepacktes Weihnachtsgeschenk,
    dass sein Alter nicht verbergen konnte.
    „Wer bekommt denn das Weihnachtsgeschenk hier, Frau Schuhmann?“, fragte Nikita neugierig.
    Frau Schuhmann bekam einen besonderen Glanz in den Augen als sie antwortete,
    „Das Geschenk ist für Ruth!“
    „Was ist denn darin?“, fragte Nikita nach.
    „Ein Kleid für Madeleine!“
    „Spielt denn deine Tochter noch mit Puppen?“, rätselte Nikita und blickte auf Madeleine,
    die auf dem Schoß von Frau Schuhmann saß.
    „Nein, Ruth spielt nicht mehr mit Puppen. Aber wenn die Zeit gekommen ist,
    werde ich ihr die Puppe und das Geschenk bringen.
    Solange warte ich schon darauf, dass sie es sich abholen kommt!“
    „Warum hat Ruth denn ihr Geschenk für Ihre Puppe nicht bekommen?“, fragte nun auch Frau Siedler
    die ältere Dame, die mit einem Mal ganz in Gedanken versunken schien.

    Frau Schuhmann setzte sich auf und hustete kräftig, bevor sie von Ruth weitererzählte.
    „ Wenn jemand mein kleines Mädchen sah, blieben die Leute entzückt auf der Straße stehen
    und drehten sich nach meinem kleinen Liebling um.
    Sie war ein hübsches Kind. Mit roten gesunden Wangen und strahlenden blauen Augen.
    -Unser Sonnenschein-, nannte mein Mann sie immer.
    Sie konnte Gedichte aufsagen, wissen sie, ich war früher Lehrerin
    und habe vielen Kindern etwas beigebracht.
    So auch meiner Ruth. Aber ich brauchte nicht viel bei diesem Kind tun,
    alles schien ihr in den Schoß zu fallen.
    Als mein Mann ihr das Schlittschuhlaufen beibrachte, dauerte s nicht lange
    und da drehte sie schon die ersten Pirouetten auf dem Eis, sie war ein sehr begabtes Kind.“
    Frau Schuhmann stöhnte kurz auf und fischte nach einem bestickten Taschentuch
    um es zu kneten und ihre Hände darin zu vergraben.
    An einem Adventnachmittag, wie diesem hier, kam Ruth von der Schule und erzählte mir,
    dass sie einem Freund aus ihrer Klasse besuchen wollte.
    Der kleine Junge wohnte nicht weit von uns,
    er hatte im Sommer oft mit ihr in unserem Garten Puppenfamilie gespielt. Ein netter kleiner Junge.“
    Frau Schuhmann machte eine kleine Pause und alle Kinder hörten ihr gespannt zu.
    „Ich ahnte ja nicht, dass dieser kleiner Junge an diesem Tag in der Schule gefehlt hatte
    und Ruth ihm nur die Hausaufgaben vorbei bringen wollte.
    Ja, so war meine kleine Ruth, sie hat immer an alle gedacht
    und jedem mit ihrem Sein eine Freude gemacht!“
    „Was ist mit Ruth passiert, Frau Schuhmann?“, fragte Frau Siedler
    und blickte wehleidig in die traurigen Augen der alten Dame.
    „Die Mutter von dem kleinen Jungen schickte meine Ruth nicht nach Hause,
    sondern freute sich, das ein Spielkamerad für ihr krankes Kind zu Besuch gekommen war.
    Und so spielte Ruth die ganze Zeit mit Madeleine und dem Jungen ihr Vater, Mutter, Kind- Spiel.“
    Sie schluckte schwer und putzte sich ihre Nase.
    In der kleinen gemütlichen Stube war es mucksmäuschenstill.
    Nur das Ticken der Wanduhr zerschnitt die Stille.
    „Ich kann bis heute nicht verstehen, warum die Mutter des Jungen,
    Ruth nicht gleich nach Hause schickte.
    Sie hätte meine Tochter doch einfach nach Hause schicken können.
    Wir hatten doch noch so viel vor, Weihnachten stand vor der Tür.“
    „Was ist denn mit deiner Tochter passiert?“, fragte Nikita
    „Ich machte mich auf der Suche nach Ruth und fand bei der Nachbarin.
    Sie spielte am Krankenbett des kleinen Jungen
    Ruth war sie schon ein bisschen fiebrig und müde.
    Auf die Frage, an was der Junge erkrankt sei, hieß es, dass er sich nur erkältet hätte.
    Wenige Tage später war er auch wieder gesund in der Schule!“
    „Und Ruth?“, Anna stellte sich fragend neben Nikita und schaute Frau Schuhmann betroffen an.
    „Ruth,.. ja, meine Ruth bekam auch Schnupfen, wie der kleine Junge.
    Sie fieberte und erbrach sich,
    es fiel ihr immer schwerer Essen zu sich zunehmen.
    Irgendwann war sie nicht mehr imstande zu atmen. Ruth hörte einfach auf zu atmen.
    Verstehen sie,.. sie hat einfach am Heilig Abend aufgehört zu atmen!“
    „Meine Güte, wie furchtbar!“, entfuhr es Frau Siedler.
    „Es war kein Schnupfen. Ruth ist an Diphtherie gestorben!
    Die Mutter des Jungen, hat sich nie bei uns für ihr Fehlverhalten entschuldigt.
    Mein Mann ist daran zerbrochen.
    Und ich auch.
    Als unser Sonnenschein verlosch, glühte auch unser Leben aus.
    Ich konnte nie wieder Kinder unterrichten, nie wieder..
    Es ging nicht mehr, obwohl ich Kinder so sehr liebe, aber Ruth fehlt mir so.. !“
    „So ein tiefer Schmerz,.. nach all den Jahren.. !“, seufzte Frau Siedler.
    „Ja.. ., auch noch nach all den vielen langen Jahren, Ruth war damals gerade sechs Jahre.
    Ich sehe ich immer noch vor mir,.. meine kleine Ruth.
    In allem was ich tue,.. sehe ich sie.
    Das Letzte was ich mir in diesem Leben wünsche,
    ist das Ruth das Geschenk für Madeleine erhält!“
    „Ich hätte Ruth ihre Madeleine mitgegeben, dann hätte sie etwas zum spielen gehabt!“, sagte Fabian leise.
    „Das durfte man damals nicht!“, seufzte Frau Schuhmann.
    „Aber ich sollte es nachholen, gleich nachdem ihr wieder gegangen seit!“
    „Gehst du deine Tochter sonst nicht besuchen?“, fragte Max.
    „Ich trage sie in meinem Herzen und spreche jeden Tag mit ihr,
    aber heute werde ich mit Madeleine und dem Weihnachtsgeschenk zum Friedhof fahren!“
    Selim streichelte Frau Schuhmanns Hände.
    „Hast du noch einen Kakao für mich?“


    © Silke Klaassen-Boehlke
     
    Andralotta Kaffeetante und Nightwing gefällt das.
  2. Danke für das Setzen von Teil II ♥
     
  3. Danke für den zweiten Teil ! Der hat mich gestern beim Einstellen schon ziemlich aus den Socken gehauen.
    und selbst das ist nur ganz flach beschrieben was da gezündet wurde. Jedenfalls bei mir.
    Dafür auch noch ein riesiges Danke schön !
    ToM
     
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  4. Ja, manchmal glaubt man gar nicht, was sich hinter Kleinigkeiten für große Geschichten verstecken können... traurig und berührend zugleich... ich werde es nie vergessen. Und ich freue mich, wenn man auf diese Art und Weise ein Licht weiter tragen kann... so wie es wohl passiert ist, wenn ich deine Antworten lese.. Danke dir dafür!
     
  5. ? das hast Du so in etwa erlebt ? Meine Güte ! Mir genügen bereits die Anstösse in die Richtung. oder besser Richtungen - denn da sind noch einige weitere drin verkrumelt. Was macht man, wenn man sein Leben mitnehmen will, all seine geliebten und verträumten Dinge, die uns täglich so "normal" begleiten , die wir gesammelt haben. Herrjeh.
     
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  6. Genau so.... es war ein Projekt, was ich in`s Leben gerufen habe, mit Kindergartenkinder ältere Herrschaften in Seniorenzentren und beim Betreuten Wohnen in der Adventszeit zu besuchen... und was für ein Gespräch bei einem solcher Besuch heraus kam, konnte man ja nun hier nachlesen. Es war Herzzerreißend...
     
  7. Was ein tolles Projekt ! Alle Achtung, allen Respekt ! Tolle Idee mit einem klassischen Win/Win .... (y)
     
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  8. Danke schön... es gibt Geschenke, die sind unbezahlbar ;)
     
  9. Dann muss ich aber auch doch noch mal nach haken, machst Du das noch so ? Oder wurde die Aktion mittlerweile eingestellt ?
     
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  10. Mit den Kindergartenkindern ( Kleine Altersgemischte Gruppe ) hab ich das gemacht, mit den Zweijährigen ist das nicht machbar, wenn ich da mit 10 Kindern auftauchen würde ;)
     
  11. Ich kam erst heute dazu Teil 2 zu lesen. Er hat mich sehr gefesselt und berührt. Was für ein tiefgreifendes Erlebnis!

    Wouw, danke, dass du uns daran teilhaben läßt!
     
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  12. Schön das du dir die Zeit genommen hast.... ich hab zu danken. :)
     

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